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Kein Schlussstrich! Bundesweites Kulturprojekt zu NSU-Verbrechen

 
29. Dezember 2021
  • 11. KupoBuko

Kultureinrichtungen positionieren sich in den letzten Jahren verstärkt politisch. Sie setzen klare Zeichen gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, sie kommentieren mit Theaterstücken, Konzerten, Ausstellungen und Diskussionsveranstaltungen das aktuelle Geschehen. Sie wollen auch denen eine Stimme verleihen, die sonst im medialen und politischen Diskurs zu wenig präsent sind.

Im Oktober und November 2021 sorgte das bundesweite Kulturprojekt „Kein Schlussstrich!“ für Aufsehen. Zahlreiche Veranstaltungen setzten sich im Rahmen des Projekts mit den Taten und Hintergründen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) künstlerisch auseinander. Für „Kein Schlussstrich!“ hatten sich Theater und andere Kulturakteur*innen aus jenen Städten zusammengetan, die von den Taten des NSU unmittelbar betroffen sind, entweder, weil dort Menschen ermordet wurden, oder weil die Täter*innen dort aufwuchsen oder lebten und sich vernetzten. Das Projekt legte einen besonderen Fokus auf die Perspektiven der Familien der Opfer und der migrantischen Communities und machte auch die Verantwortung der Zivilgesellschaft und öffentlicher Institutionen zum Thema.

»Es geht nicht darum, den NSU zu historisieren, sondern darauf hinzuweisen, welche Bedrohungen für die Demokratie auch heute noch existieren und wie sehr das Vertrauen der Opferangehörigen in den Staat und seine Organe beschädigt ist.«
Jonas Zipf
Jonas Zipf, Werkleiter von JenaKultur / Vorstandsvorsitzender Licht ins Dunkel e.V.

Dezentrale künstlerische Interventionen

Neben mehreren themenbezogenen Theaterstücken (sowohl Uraufführungen als auch Wiederaufnahmen), Konzerten, Ausstellungen, Diskussionen und Stadtrundgängen wurden für „Kein Schlussstrich!“ zwei Sonderprojekte entwickelt. Dies war zum einen das transmediale, partizipative Oratorium „Manifest(o)“ des Komponisten Marc Sinan, das in sieben Städten, an denen der NSU gemordet hatte, erarbeitet und (ur-)aufgeführt wurde. Die Einzelperformances in den verschiedenen Städten wurden jeweils digital nach Jena und Nürnberg übertragen und zu einem abendfüllenden Werk vereint. Das Schauspiel Köln beteiligte sich beispielsweise mit einer vielstimmigen Prozession am NSU-Tatort Keupstraße und führte den „Chor der Vergebung/ Affetme Korosu“ auf, in Kassel gab es eine interaktive Klangperformance in der Martinskirche, bei der die Orgel auf die Anwesenden reagierte. Ziel dieser künstlerischen Interventionen war es, Leerstellen in der politischen Aufarbeitung des NSU-Komplexes konsequent zu benennen und die Perspektive von Betroffenen dauerhaft zu repräsentieren.

Neue Formen des Erinnerns

Das zweite Sonderprojekt ist die mehrsprachige Wanderausstellung „Offener Prozess“, die das vielschichtige Wissen zum NSU-Komplex mit künstlerischen Arbeiten – vor allem aus migrantischen Perspektiven – veranschaulicht: Kurzfilme, Zeichnungen, Raum- und Soundinstallationen unter anderem von Harun Farocki, Hito Steyerl, belit sağ, Želimir Žilnik, Ulf Aminde und Forensic Architecture setzen sich mit Rassismus in seinen verschiedenen Facetten auseinander und richten den Blick auf Praktiken des Widerstands und Handlungsmöglichkeiten. Die Ausstellung war bisher in Chemnitz, Berlin und Brüssel zu sehen. Ziel der Veranstalter*innen ist es, eine neue Art des Erinnerns anzustoßen, das viele Perspektiven einbindet – besonders auch die der Opfer und der betroffenen Gruppen.

»Dass wir ein lebendiges Erinnern fordern, das ist auch eine Reaktion darauf, dass an vielen Orten das Gedenken eher zu einer Imagepolitik verkommen ist bzw. von Anfang an die Betroffenen nicht eingebunden worden sind.«
Platzhalter Portrait
Hannah Zimmermann, Co-Projektleiterin der Wanderausstellung „Offener Prozess“

Die künstlerischen Projekte weisen aber auch auf die vielen weiterhin offenen Fragen rund um die Verbrechen des NSU hin und zeigen Formen des Rassismus und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in unserem Alltag auf. Der NSU-Komplex wird im Projekt nicht als isoliertes Phänomen, sondern als Beispiel für die lange Geschichte rechtsextremer Gewalt in Deutschland kritisch zur Sprache gebracht. Viele der Projekte lassen sich an der Schnittstelle von politischer und kultureller Bildung verorten und verfolgen eine demokratiefördernde Agenda.

Einige der Inszenierungen und Ausstellungen sind auch jetzt noch live in den beteiligten Kultureinrichtungen zu sehen.

Weitere Informationen: https://kein-schlussstrich.de/

„Kein Schlussstrich!“ wurde durch den Verein Licht ins Dunkel e.V. realisiert, der im September 2020 gegründet wurde. Die Projektträger sind der ASA-FF e.V. in Chemnitz, die Theater Chemnitz, das Dietrich-Keuning-Haus Dortmund (in Trägerschaft der Kulturbetriebe der Stadt Dortmund), das Landestheater Eisenach / Meininger Staatstheater, Kampnagel Hamburg, das Theater Heilbronn, JenaKultur, das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena (in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung), Theaterhaus Jena, Staatstheater Kassel, Schauspiel Köln, Münchner Kammerspiele und Real München e.V., Staatstheater Nürnberg, Theater Plauen-Zwickau, Volkstheater Rostock, Theater Rudolstadt, Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar. Das Projekt wird von der Kulturstiftung des Bundes und im Bundesprogramm „Demokratie leben!“ durch das BMFSFJ gefördert, sowie im Rahmen der Modellförderung auch durch die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb.

Kuratorium: Tunçay Kulaoğlu, Simon Meienreis, Ayşe Güleç
Künstler*innen: İdil Baydar, Mirja Biel, Oğuz Büyükberber, Nuran David Çalış, Regine Dura, Forensic Architecture, Hans-Werner Kroesinger, Jelena Kuljić, Dirk Laucke, Thanh Nguyen Phuong, Marc Sinan, Hito Steyerl, Katharina Warda, Derya Yıldırım u.a.

Medienberichte über das Projekt:

Deutsche Welle: „Kein Schlussstrich!“ – Theater erinnern an NSU-Morde

MDR Kultur: Theater in Sachsen und Thüringen greifen NSU-Terror auf

MDR Kultur trifft… Hannah Zimmermann, Soziologin und Analytikerin des rechten Terrors