Archiv der Flucht. Erzählungen für eine diversere Erinnerungskultur
- 11. KupoBuko
Welche Formen der Erinnerungskultur sind nötig und möglich in Einwanderungsgesellschaften? Das Oral-History-Projekt „Archiv der Flucht“ gibt eine mögliche Antwort auf diese Frage. Dokumentarische Filminterviews mit 41 Menschen, die zwischen 1945 und 2016 in die Bundesrepublik oder die DDR eingewandert sind, können in dem digitalen Archiv abgerufen werden. Sie erzählen von Heimat und Exil, von Flucht und davon, was Einwanderung für sie bedeutet.
Das „Archiv der Flucht“ nimmt keine Hierarchisierung von Fluchterfahrungen vor. Es versammelt stattdessen ausdrücklich die Erinnerungen von Menschen aller Generationen, die nach Deutschland geflohen sind, von der Flucht aus Schlesien im Jahr 1945 bis zur Flucht aus Libyen im Jahr 2016.
Die Interviewten stammen aus 27 Herkunftsländern in Südamerika, Afrika, Ost- und Südosteuropa, im Nahen und Mittleren Osten sowie Südost- und Ostasien und teilen ihre Fluchtgeschichten in neun Sprachen. Die Geschichten thematisieren unterschiedlichste soziale oder kulturelle Hintergründe, Religionen, Sexualitäten und gesellschaftliche Schichten. Zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen waren die Gesprächspartner*innen zwischen 19 und 87 Jahre alt. Die einzelnen Gespräche sind zwischen einer und sechs Stunden lang.
»Ihre Geschichten zeigen, dass Flucht und Migration nach Deutschland keine Ausnahmen oder krisenhaften Anomalien sind, sondern historische Normalität.«
Dennoch dauerte es lange, bis die Pluralität der Herkünfte und Erfahrungen der hier lebenden Menschen auch im öffentlichen Selbstverständnis der Gesellschaft angekommen ist – und der Prozess dauert an. Das Archiv fördert Fragen nach angemessenen Formen kollektiver Erinnerung und von Zeitzeug*innenschaft, die in der Lage sind, die gesellschaftliche Vielfalt widerzuspiegeln. Die unterschiedlichen Erzählungen von Flucht und Ankommen können nach strukturellen Ähnlichkeiten und Unterschieden befragt werden. Die Porträts und Erinnerungen der nach Deutschland geflüchteten und migrierten Menschen eröffnen auch Fragen nach dem sich wandelnden Selbstbild dieser Gesellschaft.
Alle Filme sind im digitalen Archiv dauerhaft zugänglich und für die politische Bildung, für die Forschung und alle Interessierten nutzbar. Das Projekt entstand auf Initiative der Publizistin Carolin Emcke, die das Projekt mit der Migrationswissenschaftlerin Manuela Bojadžijev und unter Mitwirkung weiterer Expert*innen über fünf Jahre hinweg entwickelte.
Installation im Haus der Kulturen der Welt
Anlässlich der Veröffentlichung des Online-Archivs waren die Interviews vom 30. September bis 20. Dezember 2021 in einer Installation im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen. Während der Installation diskutierten Theoretiker*innen, Aktivist*innen sowie Projektbeteiligte an Thementagen zahlreiche Fragen. Sie sprachen über die Entstehung des Archivs der Flucht, über die Migrationsgeschichte und die verschiedenen Regelungen zur Einwanderung in Deutschland seit 1945, über Gestaltungschancen in gegenwärtigen Einwanderungsgesellschaften, und sie wagten einen Ausblick auf die Zukunft.
Im Rahmen einer Kooperation mit dem Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv), dem Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Datenservicezentrum Qualiservice der Universität Bremen sowie den Stadtbibliotheken Tempelhof-Schöneberg und Pankow wird das Archiv für eine weiterführende private und wissenschaftliche Nutzung zugänglich gemacht. Diverse Angebote der Stadtbibliotheken bringen die Inhalte des Archivs einem breiten Publikum näher.
Entstehung des Projekts
Das transdisziplinäre Team hat das Projekt gemeinsam über fünf Jahre konzipiert und entwickelt und dabei verschiedene Perspektiven und Erfahrungen eingebunden. Der zugrunde gelegte Fluchtbegriff wurde ebenso diskutiert wie die Frage, wie potenzielle Retraumatisierungen durch die Interviews vermieden werden können. Es wurden Leitfragen und Themen für die Gespräche entwickelt, die Interviewer*innen hatten dennoch Spielräume, um den individuellen Bedürfnissen und Themen der Gesprächspartner*innen zu folgen. Auf eine umfassende Konzeptionsphase folgte die Suche nach Interviewpartner*innen in relevanten Communities, Vereinen und bei Hilfsorganisationen.
»Dabei wurde immer wieder darauf geachtet, dass die Auswahl der Gesprächspartner*innen nicht die üblichen Mechanismen der Exklusion und Diskriminierung wiederholt.«
Es wurde nachjustiert und auch gezielt nach Menschen mit bestimmten Erfahrungen und aus bestimmten Herkunftsländern gesucht. Frauen, weniger gut Ausgebildete, ältere Menschen sollten ebenso sichtbar werden mit ihren Erzählungen wie junge, berufstätige Männer.
Angebote der politischen Bildung
Das frei verfügbare modulare Methodenset „Politische Bildung zum Archiv der Flucht“ bietet Vorschläge, wie im Unterricht, in der außerschulischen Bildungsarbeit, aber auch als Selbstlernende*r mit den Filmen beziehungsweise Ausschnitten gearbeitet werden kann. Oral History wird in den Bildungsangeboten nach eigenen Angaben „als Gegenerzählung zur klassischen Geschichtsschreibung“ aufgefasst, Migration und Flucht als gesellschaftliche Kontinuität. Ein weiterer Themenschwerpunkt liegt auf Rassismuskritik und diskriminierungskritischem Lernen. Methodisch wird unter anderem mit Storytelling, Soundscapes und Virtual Reality gearbeitet. Die Materialien wurden von mediale pfade – Verein für Medienbildung e.V. in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt HKW entwickelt, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb.
Digitales Archiv: https://archivderflucht.hkw.de/
Politische Bildung zum Archiv der Flucht: http://archivderflucht-bildung.org/de/