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Nicht systemrelevant? Krise(n) und Transformationsbedarf im Kulturbereich

 
30. Oktober 2021
  • 11. KupoBuko

Kultureinrichtungen waren aufgrund der Corona-Pandemie gezwungen, für mehrere Monate zu schließen. Dies führte einerseits zu großer Frustration und finanziellen Nöten, andererseits auch zu Reflexionsprozessen und kreativen Lösungen. Die Debatten über den gesellschaftlichen Status von Kunst und Kultur und über vielfältige Systemkrisen wurden wiederbelebt. Die Corona-Pandemie hat die Krisen im Kulturbereich nicht geschaffen, sondern vielmehr deutlicher als zuvor in den Fokus gerückt und verstärkt. Dies wird in vielen Beiträgen der Podiumsdiskussion „Die Verbindung ist unterbrochen. Corona und die Systemkrise(n) der Kultur“ deutlich, die am 14. April 2021 im Rahmen der digitalen Veranstaltungsreihe „Die Kunst des Aufbruchs“ stattfand. Die Videoaufzeichnung der Veranstaltung finden Sie hier. Doch von welchen Krisen ist eigentlich die Rede?

Systemkrise(n) der Kultur. Eine Bestandsaufnahme

Die Gesellschaft in Deutschland ist divers. Sie ist geprägt von Einwanderung und von vielfältigen Lebenswelten, kulturellen Einflüssen, Identitäten, Meinungen und Ansprüchen. In den Kultureinrichtungen spiegelt sich dies allerdings – wie in vielen weiteren Institutionen des öffentlichen Lebens – noch nicht hinreichend wider. Kultureinrichtungen müssten bereit sein, sich selbst kritisch zu hinterfragen, und alles dafür tun, um gesellschaftliche Gruppierungen stärker zu repräsentieren und teilhaben zu lassen, die bisher nicht repräsentiert sind, betonen der Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft Tobias Knoblich und der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung Thomas Krüger in ihren Statements. Dabei spielen sowohl Programm und Personal als auch Publikum und Möglichkeiten zur Teilhabe eine wichtige Rolle. Es brauche Begegnungen auf Augenhöhe.

»Wir werden mit einer Komplexität in allen Lebensbereichen konfrontiert, in der die eigene Identität immer wieder mit der durchaus demokratischen Frage nach den Anderen verhandelt werden muss.«
Thomas Krüger
Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Berlin

Auch die großen Trends der Veränderung wie Globalisierung, Migration und Klimawandel müssten von den Kulturinstitutionen ernstgenommen werden und Eingang in die Entwicklung der Programme und Strukturen finden.

Laut Zukunftsforscher*innen wird die Gesellschaft sich weiter diversifizieren, und Bewegungen wie LGBTQ+, Black Lives Matter oder die Klimabewegung werden stärkeren Einfluss auf Wirtschaft, Politik und Kultur haben. Gleichzeitig gewinnen aktuell reaktionäre, antidemokratische Strukturen weltweit an politischer Bedeutung und setzen Kunst und Kultur unter Druck. Auch in Deutschland gab es bereits Angriffe auf Kulturinstitutionen durch rechtsextreme und rechtspopulistische Akteure. Diese Polarisierungen zeigen, dass politische Konflikte zunehmend im Kulturfeld ausgefochten werden.

Im Umgang mit sich zum Teil schnell vollziehenden Veränderungen in der Gesellschaft sind starre Machtstrukturen in Institutionen eher hinderlich. Tobias Knoblich räumt ein, dass sich dort zum Teil bestimmte Eliten und Vorstellungen, wie Einrichtungen geleitet werden, reproduzieren. Hier sei jedoch Sensibilität in alle Richtungen nötig, denn auch Traditionen und bewährte Pfade hätten ihre Daseinsberechtigung.

Die Digitalisierung ist eine weitere Herausforderung für Kultureinrichtungen. Viele Institutionen wurden in dieser Hinsicht von der Corona-Pandemie kalt erwischt – und haben schnell gelernt. So wurden Möglichkeiten zur digitalen Kommunikation und Kollaboration genutzt und neue künstlerische Formate etabliert.

Nicht systemrelevant? Zur Bedeutung der Kultur für die Gesellschaft

Die Formulierung „nicht systemrelevant“ – auch in Bezug auf die Kultur – zog während der Corona-Pandemie ihre Kreise. Aus Sicht von Thomas Krüger hatte dies auch etwas Gutes: Die Debatte um den gesellschaftlichen Status und Wert von Kunst und Kultur wurde befeuert. Das sei eine Chance und ein geeigneter Ausgangspunkt für einen Aufbruch. Kunst und Kultur könnten eine spezifische Wahrnehmungs- und Deutungsebene für die Beurteilung von Gesellschaft schaffen – und damit auch von Krisen. Sie seien in der Lage, gesellschaftlich relevante Fragestellungen und Leerstellen in den Vordergrund zu rücken.

»In Kunst und Kultur (…) können innovative und utopische Ideen und Formen des Zusammenlebens erprobt und Missstände auf vielfältige Weise aufgezeigt und diskutiert werden.«
Platzhalter Portrait
Amelie Deuflhardt, Künstlerische Leitung / Intendantin Kampnagel Hamburg

Kultureinrichtungen und Orte der Kunst haben immer auch eine soziale Dimension. Es sind Orte, wo Menschen aufeinandertreffen, die sich sonst nicht begegnen. Hier wird eine Öffentlichkeit hergestellt, die existenziell ist für demokratische Prozesse. Während der Pandemie fand viel öffentliche Begegnung in Videomeetings statt, doch die tatsächliche reale Öffentlichkeit der kulturellen und gesellschaftlichen Begegnung vor Ort war stillgelegt.

Die Bedeutung dieser einzigartigen Eigenschaften der Kunst und Kultur, unmittelbare Begegnungen und Erlebnisse zu schaffen, den Blick zu weiten und Neues zu kreieren, wurde vielen Menschen durch die Erfahrung der Pandemie wieder bewusst – als sie keinen Zugang hatten.

Ein Ausblick auf Post-Corona. Drohende Finanzierungslücken

Freie Träger, freischaffende Künstler*innen und Solo-Selbstständige waren von den Auswirkungen der Corona-Maßnahmen besonders betroffen und gerieten in existenzielle Nöte. Es gab zunächst keine Strukturen und Förderprogramme, um diese aufzufangen. Die staatlich finanzierten und geförderten Institutionen kamen hingegen ganz gut durch die Pandemie-Zeit. Dies könnte sich jedoch nach der Pandemie wegen der Situation der öffentlichen Haushalte umkehren. Finanzielle Kürzungen würden größere Kultureinrichtungen empfindlich treffen, da die frei verfügbaren Mittel zur Programmgestaltung im Vergleich zum gebundenen Personalbudget ohnehin gering sind. Möglicherweise müsse man nach der Pandemie viel stärker über die Gefährdung von Institutionen sprechen, als wir uns das momentan ausmalen könnten, warnt der Hamburger Senator für Kultur und Medien Carsten Brosda.

Freie Kulturschaffende hingegen seien in der Lage, mit prekären Situationen umzugehen, so Brosda. Sie hätten sich stets nicht nur aus staatlichen Mitteln finanziert und seien immer gezwungen gewesen, sich schnell anzupassen. Wichtig sei es, die Kulturpolitik vor Ort in den Kommunen und Ländern in den nächsten Jahren handlungsfähig zu halten, um die Vielfalt an Kulturinstitutionen zu erhalten und zu stärken.

Da keine Veranstaltungen und Ausstellungen in Präsenz stattfinden konnten, haben viele Geldgeber relativ schnell die Förderung digitaler Formate ermöglicht – was mancherorts zu merkwürdigen Diskrepanzen führte. Während einige große Museen zum Beispiel kein festes Personal für digitale Projekte und nicht einmal WLAN in allen Gebäuden hätten, operierten sie plötzlich mit Fördermitteln für digitale Projekte in Millionenhöhe, berichtet Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.

Transformationsbedarf. Die Pandemie als Chance, Veränderungsprozesse anzustoßen

Viele Kultureinrichtungen wollten nach der Pandemie am liebsten so schnell wie möglich dort anknüpfen, wo sie im März 2020 aufgehört haben. Doch die Diskussionsteilnehmenden sind sich einig, dass dies nicht möglich ist. Sie begreifen die Pandemie als Chance, Veränderungsprozesse anzustoßen.

Die Kultureinrichtungen in Deutschland sind gefordert, auf die vielfältige Gesellschaft einzugehen, möglichst vielen Menschen und Gruppen Teilhabe zu ermöglichen und agile, offenere Strukturen zu entwickeln. Dazu sind größere Transformationen in Strukturen und Programmen nötig – und eine Offenheit, positive Veränderungsimpulse, zum Beispiel durch jüngere und neue Mitarbeitende aufzunehmen.

Deutschland verfügt über eine vielfältige und dichte staatliche sowie staatlich geförderte Theater- und Museumslandschaft. Carsten Brosda plädiert dafür, dass die Institutionen sich so öffnen, dass sie Kristallisationspunkte für ein kulturelles Leben auch außerhalb ihrer eigenen Logik werden, indem sie beispielsweise verstärkt mit Partnerinnen und Partnern vor Ort zusammenarbeiten und ihnen ihre „Hardware“ zur Verfügung stellen. Die Frage der Kooperation sei zentral für die Verteilungsauseinandersetzungen der nächsten Jahre.

»Und dann stellen sich Fragen: Wie öffnen sich die Institutionen? Wie kann ich Dinge oder Institutionen verändern oder auch aufgeben? – Auch das darf kein Sakrileg mehr sein.«
Platzhalter Portrait
Dr. Tobias J. Knoblich, Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.

Auch für die Kulturpolitik gibt es Transformationsbedarf. Ein Problem sei, dass es derzeit kein Zukunftsversprechen gebe und dass es neue Narrative brauche, so Tobias Knoblich. Er wünscht sich mutige Kulturpolitiker*innen, die bereit seien, sich vom Habitus des gutmeinenden, des bewahrenden und behütenden zu emanzipieren und darüber zu diskutieren, in welcher Welt wir leben möchten – vor Ort in den Städten und Gemeinden.

Knoblich appelliert an die Teilnehmenden und das Publikum, den Mut zu haben, neue Geschichten zu erzählen.

Diskussionsteilnehmende:

Dr. Tobias J. Knoblich, Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e. V.; Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb; Prof. Dr. Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden; Amelie Deuflhard, Künstlerische Leiterin /Intendantin Kampnagel Hamburg und Dr. Carsten Brosda, Senator der Behörde für Kultur und Medien der Freien Hansestadt Hamburg; Moderation: Özlem Sarıkaya.

Veranstalter: Kulturpolitische Gesellschaft e. V. und Bundeszentrale für politische Bildung/bpb

Die gesamte Diskussion können Sie hier anschauen:

Modul 1: Die Verbindung ist unterbrochen. Corona und die Systemkrise(n) der Kultur

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