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Die Demokratie ist alles andere als stabil.

 
6. September 2022
  • 11. KupoBuko

Lieber Herr Prof. Reckwitz, wir befinden uns inmitten einer Zeit multipler Krisen. Wie beurteilen Sie die aktuelle gesellschaftliche Lage?

Die aktuelle Lage ist dadurch gekennzeichnet, dass das Fortschrittsmodell der modernen Gesellschaft immer weniger trägt. Die Moderne und die Idee des Fortschritts, das heißt die Vorstellung, dass der gesellschaftliche Wandel im Prinzip einer zum Besseren sei, er ein »Vorwärts, nicht rückwärts« bezeichnet, sind seit dem 18. Jahrhundert eng miteinander verquickt. Eine solche Hoffnung auf eine bessere Zukunft wäre für die vormoderne Gesellschaft ganz ungewöhnlich gewesen. Auch in der Geschichte der Moderne hat die Fortschrittserzählung ihre Höhen und Tiefen erlebt, gerade im 20. Jahrhundert. Aber seit dem Fall der Mauer 1989/90, dem Beginn der sogenannten Globalisierung, auch der technischen Revolution der Digitalisierung erschien die Fortschrittsvorstellung für viele zwingend. Man musste gar nicht mit Fukuyama vom »Ende der Geschichte« sprechen, um zu denken, dass die Weltgesellschaft mit der Globalisierung von Demokratie, Märkten und Kultur eine Art natürlichen Reifungszustand erreicht habe.

Das erweist sich in den letzten Jahren jedoch zunehmend als Illusion, und man erkennt dabei verschiedene Faktoren. Ein wichtiger Faktor ist der Aufstieg des rechten Populismus in Europa und Nordamerika, man denke an die Wahl Trumps in den USA 2017 – einschließlich des Sturms auf das Kapitol durch Trump-Anhänger 2020 – und die starken Ergebnisse der Rechtspopulisten in Frankreich, auch an den Aufstieg der Nationalkonservativen in Polen und Ungarn. Die Demokratie ist im Westen selbst also gegenwärtig alles andere als stabil, sondern steht unter Beschuss. Hinter den Erfolgen der Populisten verbergen sich offenbar tiefe Unzufriedenheiten nicht zu unterschätzender Teile der Bevölkerung mit dem Modernisierungsprozess der letzten Jahrzehnte, vor allem in der kleinstädtischen traditionellen Mittelklasse und der prekären Klasse.

Der Krieg Russlands auf die Ukraine, der uns gegenwärtig so schockiert, liefert dieser Erschütterung unseres liberalen Fortschrittsglaubens nun auf der globalen Ebene weitere Nahrung. Viele hatten im Westen geglaubt, dass die globale Entwicklung – ob in Russland oder in China, im Nahen Osten oder in Afrika – gewissermaßen zwangsläufig in Richtung »nachholender Modernisierung« und »Verwestlichung« und das heißt auch einer internationalen Politik des Multilateralismus gehen wird. Man meinte, wirtschaftliche Verflechtung und Demokratisierung gingen Hand in Hand. Aber wir sehen jetzt mit dem Angriffskrieg Russlands, dass dies eine naive Sichtweise war. Stattdessen erleben wir nun international wie zuvor bereits innergesellschaftlich eine neue Konfliktlinie zwischen Liberalismus und Autoritarismus, ein Konflikt, der von letzterem teilweise sogar mit Gewalt geführt wird.

Wie bewerten Sie den Zustand der Demokratie? Wo sehen Sie Schwächen und Probleme?

Wir sind seit ein paar Jahren in einer Situation, die wir seit 1945 so noch nicht hatten: Die liberale Demokratie westlichen Typus ist selbst durch gesellschaftlich starke Kräfte unter Beschuss, eben durch die Populisten. Symbolhaft verdichtet sich dies bei Viktor Orban in Ungarn, der gegen den Liberalismus die »illiberale Demokratie« als ‚eigentliche‘ Demokratie des Volkes stark macht. Während die liberale Demokratie von einem unhintergehbaren Pluralismus der Interessen, Werte und Weltbilder ausgeht und daher auch die Bürgerrechte garantiert und auf ein System von checks and balances setzt, in dem Mehrheiten immer kontrolliert werden, setzt das populistische Verständnis auf den Ausdruck eines vorgeblich homogenen Volkswillens.

Als Soziologe und Vertreter der liberalen Demokratie kann ich natürlich dagegen halten, dass man hier offenbar nicht verstanden hat, was Demokratie in einer modernen Gesellschaft bedeutet: Diese ist eben keine homogene Dorfgemeinschaft mehr, sondern eine heterogene und pluralistische Gesellschaft. Aber man sollte sich trotzdem fragen, wie sich der Zulauf für die Populisten erklären lässt, warum deren vehemente Elitenkritik bei manchen auf so fruchtbaren Boden fällt. Und tatsächlich wird man dann einräumen müssen, dass die liberale Demokratie in den letzten Jahrzehnten im Westen durchaus Schwächen ausgebildet hat. Die beiden wichtigsten sind wohl das Repräsentationsdefizit und die Ideologie der Sachzwänge. Repräsentationsdefizit heißt: Das Milieu der Abgeordneten spiegelt gerade nicht mehr die gesellschaftliche Heterogenität wider, sondern besteht zum großen Teil aus Akademikerinnen und Akademikern aus den Metropolregionen. Viele Lebenswelten und Lebensgefühle kommen so gar nicht mehr vor. Und: Politische Debatten werden häufig nicht als offene Diskurse zwischen verschiedenen Interessen und Werten geführt, vielmehr gibt es eine Herrschaft der Sachzwänge: Die sogenannten Expertinnen und Experten geben dann vor, wie zu handeln ist, das ist ein technokratisches Politikmodell. Die demokratische Pluralität, der Streit der Positionen kann so aber gar nicht zum Ausdruck kommen. Armin Schäfer und Michael Zürn haben jüngst in ihrem Buch »Die demokratische Regression« diese Schwächen noch einmal herausgearbeitet.

Welche Rolle spielt die »soziale Frage« und zunehmende Einkommensunterschiede für die Krise der Demokratie?

Ich würde die soziale Frage eng in Zusammenhang mit der kulturellen Anerkennungsfrage sehen: Beides zusammen ergibt, ob man sich gesellschaftlich eher bei den Gewinnern oder den Verlierern einordnet. Tatsächlich scheint mir dies ein zentraler Hintergrund für den Aufstieg des Populismus und die ‚Krise der Demokratie‘ zu sein: Die ökonomischen und kulturellen Wandlungsprozesse der letzten Jahrzehnte haben auch größere Gruppen von Verlierern hervorgebracht. Während die Wissensökonomie der Hochqualifizierten in den Metropolregionen florierte, hat es auf der anderen Seite Deindustrialisierung, damit auch den Verlust klassischer, gut bezahlter Berufe der traditionellen Mittelklasse und umgekehrt den Aufstieg einer wenig angesehenen, schlecht bezahlten service class gegeben. Auch ein regionales Gefälle zwischen Zentren und Peripherien tut sich auf.

Welche Funktion haben Kunst und Kultur aus Ihrer Sicht für das demokratische Miteinander?

Ich würde die Kunst nicht auf eine einzelne Funktion festlegen wollen. Gerade in einer modernen Gesellschaft hat die Kunst zu Recht eine Autonomie erhalten, sie ist auch ein Experimentierraum und ein Bereich, in dem zweckfreie Ästhetik möglich ist. Das unterscheidet sie gerade von der Kunst in totalitären oder autoritären Systemen, wo sie eine strikte politische Funktion erfüllen soll. Zugleich kann man aber schon sagen, dass die Kunst in der Moderne auch eine gesamtgesellschaftliche Rolle spielt. Ich würde da vor allem zwei Aspekte sehen. Kunst ist mit Jürgen Link gesprochen Interdiskurs, nicht Spezialdiskurs: Sie liefert damit einen Raum zur Thematisierung von Fragen gesamtgesellschaftlicher Relevanz. In der Kunst ist gewissermaßen alles thematisierbar. Zugleich lebt die Kunst in der modernen Gesellschaft den Pluralismus vor, wie er ja auch für die Politik gelten sollte. Kunst ist gewissermaßen ein Trainingsfeld für Pluralismus, hier ästhetischen Pluralismus. Denn gerade die Kunst lebt ja von der Pluralität der Perspektiven, der Weltbilder, der Zugänge, auch der überraschenden Geschichten und Einfälle. Wenn man also mit der Pluralität in der Kunst umgehen kann, dann kann man es auch besser mit der Pluralität in der Politik: Man erkennt, dass diese nicht Bedrohung ist, sondern das Lebenselixier moderner Gesellschaft.

Der Titel des Schwerpunkts dieser Ausgabe der Kulturpolitischen Mitteilungen lautet »Kunst der Demokratie«. Was verstehen Sie darunter? Was macht für Sie eine Kunst der Demokratie aus?

Die Frage könnte ich auf zwei Weisen beantworten: Zum einen, mit dem, was ich gerade gesagt habe: Kunst in der Demokratie als Austragungsort von Pluralität und als Interdiskurs für Themen von allgemeiner Bedeutung. Aber die Formulierung ‚Kunst der Demokratie‘ hat ja einen Doppelsinn. Ist es nicht auch im politischen Feld eine ‚Kunst‘, gute Demokratie zu betreiben, ähnlich wie es eine ars vivendi gibt? Der Begriff der Kunst meint hier – vor den modernen Kunstbegriff zurückgehend – eine Art Kunstlehre, eine Kompetenz und eine Sensibilität, welche auch Ausdruck einer bestimmten Qualität ist. Ich denke tatsächlich, dass es in der liberalen Demokratie eine solche Kunst gibt, und sie meint gerade den klugen, respektvollen, aber auch wirkungsvollen Umgang mit Pluralität: beispielsweise die Kunst, eine Debatte zu führen, hart in der Sache, aber fair im Umgang, die Kunst, ein Publikum zu überzeugen, also die gute Rede, die genau das Gegenteil von Demagogie ist, und nicht zuletzt die Kunst des Kompromisses, die Gräben überbrückt. Die Kunst der Demokratie als die Kunst, gut mit Pluralität umgehen zu können, manifestiert sich idealerweise in der Arbeit der Parlamente, aber auch die Medien. Die Universitäten und wiederum die Kulturinstitutionen können natürlich Felder sein, in denen diese Kunst gepflegt wird. Die Kunst der Demokratie wäre also genau das Gegenteil zur Hasskultur, wie sie in den letzten Jahren allenthalben beklagt worden ist, und zu ihrem Freund-Feind-Denken, wie es sich über die digitalen Medien und unter dem Einfluss des Populismus verbreiten konnte. Insofern ist die Kunst der Demokratie tatsächlich ein hochaktuelles Thema, aber auch ein höchst fragiles Phänomen.

*Die Fragen für die Redaktion stellte Dr. Henning Mohr.

Prof. Dr. Andreas Reckwitz

Prof. Dr. Andreas Reckwitz