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Eine demokratische Erneuerung für Europa? Interview zum Bericht der Generalsekretärin des Europarats

 
24. Januar 2022
  • 11. KupoBuko

Im Mai 2021 erschien der aktuelle Bericht der Generalsekretärin des Europarats (Council of Europe) zur Lage der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit mit dem Untertitel „A democratic renewal for Europe“ (dt.: eine demokratische Erneuerung für Europa).

Kathrin Merkle, Leiterin der Abteilung Kultur und Kulturerbe beim Europarat, beantwortet für den Blog Fragen zum Zustand der Demokratie, zur Meinungsfreiheit und zu den Zusammenhängen von Kultur und Demokratie. Die Antworten zitieren Auszüge des Berichts in freier Übersetzung.

Redaktion: Der Titel des Berichts „A democratic renewal for Europe“ klingt sehr optimistisch. Welches Zeugnis stellt der Bericht denn dem Zustand der Demokratie in Europa aus – und wo sieht er die größten Herausforderungen?

Kathrin Merkle: Der diesjährige Bericht greift auf die Praxis der Vorjahre zurück, den Zustand der wichtigsten Bausteine ​​der demokratischen Sicherheit in Europa zu bewerten. Er gibt Auskunft über Trends seit 2018, dem Zeitpunkt der Veröffentlichung des letzten derartigen Bewertungsberichts. Dabei zeigt sich, dass es viele Beispiele für Fortschritte aus allen Mitgliedstaaten des Europarats und in allen Kapiteln des Berichts gibt, die nicht unterschätzt werden sollten. Insgesamt ist jedoch ein deutlicher und besorgniserregender Grad an demokratischen Defiziten zu erkennen. Und deshalb ist der Bericht ein „Call to action“!

Welche Entwicklungen sind in den letzten Jahren zu beobachten – Entwickelt sich die Demokratie in Europa eher zum Guten oder zum Schlechten?

Europas demokratisches Umfeld („democratic environment“) und demokratische Institutionen befinden sich in einem sich gegenseitig verstärkenden Negativtrend. Die Evidenz zeigt sich in der Arbeit und den Aktivitäten des Europarats. Und dies geht oft auch auf Entwicklungen vor der Entstehung der Covid-19-Pandemie zurück – allerdings haben die Pandemie und das legitime Vorgehen der Behörden (Einschränkung der Rechte und Freiheiten des Einzelnen) diesen Trend verstärkt. Wenn wir uns die Entwicklungen genauer anschauen, dann sehen wir Probleme mit einer effizienten, unparteiischen und unabhängigen Justiz, den Rückgang der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Schwächung der politischen Institutionen sowie Probleme mit der Integrität von Institutionen. Es gibt schwere Verletzungen und Vernachlässigung der Menschenwürde, zunehmende Hassrede, Fremdenfeindlichkeit und anhaltende Diskriminierung einiger Gruppen und schließlich auch Probleme mit demokratischer Teilhabe – die ja so zentral ist für eine demokratische Kultur.

Ein Hauptkapitel des Berichts befasst sich mit der Freiheit der Meinungsäußerung. Welche Missstände werden hier beklagt und wie will man ihnen begegnen?

Die Meinungsfreiheit geht in vielen Mitgliedstaaten tatsächlich zurück. Die Gewalt gegen Journalist*innen hat laut Bericht zugenommen, darunter auch Morde, die zum Teil ungestraft bleiben. Während der Gesundheitskrise haben Gewalt, wie auch Zensur und Repressalien für die Infragestellung der Regierungspolitik, stark zugenommen. Die Covid-19-Pandemie zeigte einerseits erneut die Notwendigkeit von qualitativ hochwertigem, faktengeprüftem Journalismus, und brachte andererseits auch einen Anstieg von Desinformation und letztlich eine gewisse Nachrichten-Skepsis bei größeren Anteilen der Bevölkerung mit sich.

Darüber hinaus bleiben unrechtmäßige Inhaftierungen und Hetzkampagnen gegen Journalist*innen – auch durch staatliche Institutionen – ein Problem. Restriktive Gesetze, und in einigen Fällen groß angelegte Sperrungen von Websites, haben die freie Meinungsäußerung eingeschränkt. Der Bericht der Generalsekretärin stellt zudem zunehmende Hassrede im Internet fest.

Was zu tun ist? Zunächst ruft der Bericht die Mitgliedsstaaten dazu auf, zu den grundlegenden demokratischen Prinzipien zurückzukehren. Sie sollen sich erneut zum Besitzstand des Europarates – beginnend mit der Europäischen Menschenrechtskonvention – bekennen und den in der Organisation verankerten Multilateralismus nutzen, indem sie z. B. bei anstehenden Entscheidungen proaktiv die Organe des Europarates konsultieren. Sie sollen sich auch aktiv der Förderung der demokratischen Kultur, des zivilgesellschaftlichen Raums und der Rede- und Versammlungsfreiheit annehmen.

Hilfestellung bieten spezifische Instrumente: An prominenter Stelle die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie rechtliche Schutzmaßnahmen auf nationaler Ebene gegen den Missbrauch von Gesetzen, die die Freiheit der journalistischen Meinungsäußerung offline und online einschränken. Dann steht die Stärkung der Europarats- Sicherheitsplattform für Journalist*innen an sowie die Umsetzung der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates zum Schutz des Journalismus und der Sicherheit von Journalisten und anderen Medienakteuren (CM/Rec(2016)4). Aktivitäten zur Förderung von Qualitätsjournalismus und Erfahrungsaustausch zu good practices im Bereich der Medien- und Informationskompetenz sind abrufbar, wie auch Leitlinien zu den Auswirkungen der digitalen Technologien auf die Meinungsfreiheit und zur Medien- und Kommunikations-Regulierung im Kontext der Umstellung auf Social Media Plattformen. Außerdem werden Richtlinien zur Bekämpfung von Hassrede offline und online erstellt, komplementär zu einer Europaratskampagne zu diesem Thema. Der Europarat fordert darüber hinaus seine Mitgliedstaaten auf, umfassende nationale Aktionspläne auszuarbeiten, um die Sicherheit von Journalist*innen (noch) wirksamer zu schützen. Letztlich spielt ein unabhängiges und pluralistisches Medienumfeld in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle: Es gibt mehrere Richtlinien und Rechtsrahmen für deren Förderung, die jedoch ebenfalls verstärkte Bemühungen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung erfordern.

Die Generalsekretärin stellt in ihrem Bericht fest, dass das Erreichen dieser Ziele sicherlich in der Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten liegt – indem sie zu bereits eingegangenen Verpflichtungen zurückkehren und diese im ursprünglich beabsichtigten Sinne erfüllen.

Das Themenfeld Kultur und Kulturelles Erbe wird im Bericht unter Kapitel 8 „Demokratische Partizipation“ gefasst. Inwiefern hängen Kunst, Kultur und Demokratie aus Sicht des Europarats zusammen?

Kultur, Herz und  Seele der Demokratie“ ist der schöne Titel einer Broschüre, die der Europarat vor einigen Jahren erstellt hat und die aufzeigt, wie eng die Stärkung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit mit der Förderung von Kultur und Bildung verbunden sind.

So erfüllte die Organisation ihre Mission nach dem Zweiten Weltkrieg, und erneut nach dem Fall der Berliner Mauer, mit kultureller Zusammenarbeit an zentraler Stelle für die Integration Europas. Demokratisierung und nachhaltige Entwicklung sind untrennbar mit Kulturentwicklung und Kulturpolitik verbunden. Kultur begleitet, und wirkt als Motor für politische, soziale und technologische Transformationen. In letzter Zeit werden die dynamisierende Rolle und das Potenzial von Kunst, Kultur und Kulturerbe vor allem mit Blick auf ihren Beitrag zur Bewältigung des Klimawandels und der Umweltherausforderungen diskutiert.

Im Detail, was kann Kultur? Die Vielfalt der Kulturen, der Künste und des Kulturerbes erweitern Wahrnehmungskanäle („openness of mind“). Offene und interaktive Kulturerfahrungen helfen uns, mit der Komplexität des eigenen Seins, wie auch des Zusammenlebens mit anderen umzugehen. Die demokratische Teilhabe an Kultur und ihrer Governance sind Schlüssel zu diesen Prozessen. Als Teil der in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Meinungsfreiheit ist die Kunstfreiheit für das kulturelle Leben und Kreativität in der Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung. Unterschiedliche Formen des kulturellen Ausdrucks – ob traditionell, zeitgenössisch oder futuristisch – helfen, gesellschaftliche Realitäten zu interpretieren, die zunehmend von Globalisierung, Interdependenz, Vielfalt und damit einhergehender Unsicherheit und Komplexität geprägt sind. Beim Streben nach einer vielfältigen und integrierten Gesellschaft bringt Europas Kulturerbe Ideen und Menschen zusammen. Dies kann ein Gefühl der mehrfachen Zugehörigkeit fördern – Identität stützt sich auf viele Quellen unserer Geschichte und kulturellen Erfahrungen. Nicht nur Zusammenhalt, Inklusion, der Umgang mit Vielfalt und Dialog – die für eine funktionierende Demokratie dringend erforderlich sind – werden durch Kunst, Kultur und das Kulturerbe vermittelt. Kultur wird in vielen Studien und Beobachtungen für ihre Fähigkeit gelobt, vielfältige Partizipation und bürgerschaftliches Engagement und somit demokratische Teilhabe und Demokratie zu befördern und zur selbstbestimmten, staatsbürgerlichen Bildung beizutragen.

Kultur und Kunst helfen auch, mit den Brüchen und Veränderungen umzugehen, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert ist: in letzter Zeit besonders mit den Herausforderungen der allgegenwärtigen Digitalisierung – einschließlich der Frage nach einer – möglichst demokratischen – Zukunft der Menschheit mit den Maschinen. Und es stellt sich die Frage der Gewährleistung von Pluralismus und Diversität zum Beispiel im audiovisuellen Sektor, wo unter anderem die Auswirkungen von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz verstärkt zum Thema werden.

Welche Folgen und Handlungsempfehlungen können aus dem Bericht 2021 für die Kulturpolitik in Deutschland und Europa abgeleitet werden? Werden Strategien oder konkrete Maßnahmen vorgeschlagen?

Da die Demokratie unter Druck steht, wird die Schlüsselrolle von Kunst und Kultur als wirksames Mittel zur Aufrechterhaltung eines konstruktiven Dialoges in demokratischen und offenen Gesellschaften immer deutlicher. Das Recht auf künstlerische Ausdrucksfreiheit ist hier von zentraler Bedeutung und sichert den Pluralismus und die Vitalität des demokratischen Prozesses.

Um eine breite Beteiligung an der Kultur und das Vertrauen in Institutionen zu fördern, ist es notwendig, eine solide Kultur- und Kulturerbe-Politik zu fördern, die den Bürger*innen einen gleichberechtigten Zugang zu einem breiten Spektrum kultureller Möglichkeiten ermöglicht.

Dabei sind Politikrichtlinien zur Förderung eines lebendigen kulturellen Umfelds und der Vielfalt in Kulturinstitutionen und -industrien wichtig. Es sollten geeignete Infrastrukturen und Institutionen vorhanden sein, um die aktive Teilnahme am kulturellen Leben und an kulturellen Aktivitäten zu unterstützen. Außerdem sollten innovative Politiken und Strategien umgesetzt werden, um die demokratische Verwaltung von Kultur und Kulturerbe zu befördern und partizipative Praktiken in den Mitgliedstaaten anzuregen. Die Faro-Konvention – Rahmenübereinkommen über den Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft – des Europarats ist in dieser Hinsicht ein inspirierendes Instrument.  

Die Mitgliedstaaten sollten die Meinungsfreiheit, die Wissenschafts- und die Kunstfreiheit garantieren und fördern, die ihrerseits die Teilnahme an der Kultur – einschließlich Online-Beteiligung – befördert. Letztere gewinnt nicht zuletzt in Zeiten kulturellen Lockdowns im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie an Bedeutung.

Der Europarat hat 2021 mit seinem Lenkungsausschuss für Kultur, Kulturerbe und Landschaft eine neue, digitale Kunstausstellung mit dem Titel „Free to Create – Create to be Free“ implementiert. Diese begleitet das Manifest zur Kunstfreiheit im digitalen Zeitalter, das 2020 lanciert wurde. Diese beiden Beiträge zum 70. Geburtstag der Europäischen Menschenrechtskonvention unterstreichen die Rolle von Künstler*innen, Künstlermobilität und Kunstfreiheit als strategische Ressourcen für die Gesellschaft, die dazu beitragen, Fragmentierung zu überwinden und die globalen Herausforderungen von heute zu bewältigen. Die Mitgliedstaaten sind eingeladen, sich an der Ausstellung durch die Bereitstellung von digital vermittelbaren Kunstwerken zu beteiligen und so dazu beizutragen, dass die Ausstellung zu einem lebendigen Archiv der Kunstfreiheit in Europa im 21. Jahrhundert heranwächst. Und schließlich empfiehlt der Bericht der Generalsekretärin, einer Studie von 2019 folgend, konkrete Maßnahmen zur Förderung von kultureller Vielfalt und Pluralismus im audiovisuellen Sektor in Europa zu ergreifen. Dies kann konkret bedeuten, das Modell der kulturellen Zusammenarbeit im Filmbereich durch den Europäischen Fonds für die Koproduktion und den Vertrieb kreativer kinematografischer und audiovisueller Werke (Eurimages) auf neue Instrumente der gesamteuropäischen öffentlichen Finanzhilfe anzuwenden sowie einen Rechtsrahmen zur Erleichterung der internationalen Koproduktion von Fernsehserien zu schaffen.

Kathrin Merkle

Kathrin Merkle ist Leiterin der Abteilung Kultur und Kulturerbe beim Europarat (Council of Europe) – Generaldirektion Demokratie (GDII). Sie leitet die Abteilung Kultur und Kulturerbe des Europarats und koordiniert die zwischenstaatliche Arbeit von 50 Vertragsstaaten der Europäischen Kulturkonvention. Dazu gehören neben der Komitee-Arbeit u. a. auch Politikberatung in Form von Peer Reviews, Politikempfehlungen zu Kultur und Digitalisierung, Arbeiten zu KI, zur Meinungsfreiheit in Kunst und Kultur sowie zu den Konventionen des Europarates im Bereich des Kulturerbes, auch mit Blick auf nachhaltige Entwicklung und integrierte Kultur-Natur Politikansätze.